AM31 – Brief an Walter Gropius
Toblach, Montag, 5. September 1910


Montag

[Postskriptum:] Ohne zu überlesen – schicke ich weg – in höchster Eile –!

Mein geliebtester

Es ist Nacht. – 12h –. Morgen Mittag reise ich ab. Ich habe gestern und heute rasend gearbeitet – gepackt u. geordnet – nichts vermochte mich von Dir loszubringen. Ich bin über mich selber erstauntest [!]. Dieses kurze Sichkennen – und dieses lange Sichlieben. – So rein wie alle Deine Empfindungen für mich, so rein sind die meinen für Dich. Ich bin so ähnlich betrachtend angelegt – wie Du. Ich sitze hier im Bett – und das Sommerende ist es, was mich ein Resumé ziehen lässt, über die letzten Monate. Alles liegt wie in einem goldenen Lichte gebadet vor mir . . . . meine wunderbare Liebe zu Dir! — —

Glaube nicht, dass nur


Du veredelt dadurch wurdest – ich fühle es an allem und jedem – Du schwebst gleich einer Lichtgestalt vor mir – schönster Jüngling[,] und bestimmst meine Handlungen.

Ich liebe Dich[.] —

Ich weiß, dass ich nur der Idee zulebe, die Deine zu werden! Mit festem und sicheren [!] Glauben erhoffe ich das von meinem Schicksal. Einstweilen aber wollen wir uns sehen . . – Zeitreise – lichte Flecken unserm Leben aufsetzen – uns lieben – uns immer näher aneinander binden, lebende Bänder zwischen uns knüpfen – die enger und enger werden müssen – bis wir Eins sind[.]

EiNS[,]

Du meiner! —


Ich bin überzeugt, dass wir gut daran thun – nur einmal die Woche officiell zu schreiben – und so zu schonen – andrerseits ertrüge ich das vollkommene Getrenntsein immer so lange – nicht! – Wann wird die Zeit kommen, wo Du nackt an meinem Leib liegst, wo uns nichts trennen kann – als höchstens der Schlaf. Morgen Mittag fahre ich. – Am 15ten bin ich in Wien. Du schreibst bis dahin – München Hauptpost: p.[oste] r.[estante] A. M. 50. Ich wähle eine andre Ziffer, damit [,] der vielleicht damals einen Couvert od. Tel.[egramm] gesehen hat, nicht am Ende argwöhnisch nachfragen geht. – Obwohl ihm das gar nicht ähnlich sehe. Mein – was wird uns Wien bringen! — —


Keine Nächte!! –

Aber Nachmittage – selige Stunden – ich habe keinerlei Hemmungen in meinen Empfindungen gegen Dich[.] – Ich bin nur weich u. liebend[,] wenn ich an Dich denke. Nie zuvor ist mir das begegnet – wie Du ja überhaupt mein ganzes Leben verändert hast.

Gestern u. heute Abend habe ich die noch einmal durchgelesen. Ein wunderbar anziehend – ergreifendes Werk – Du hast ganz recht, Dich dafür so zu begeistern. Es gefiel mir 1000 mal besser als das erste mal. Gina u. Fabriccio [!] sind herrliche Gestalten – mit Clelia weiß ich außer dem schönen Namen nicht viel anzufangen. —


Sie ist beschränk[t] u. jesuitisch und kommt \reicht/ an Wärme den beiden andern nicht bis zu den Knien. – Es hat mich sehr aufgeregt. – Sage einmal[,] hast Du gelesen? —

2 meiner Lieblingsgedichte hast Du:

[I.]

„Hinüber wall’ ich – und jede Pein

wird einst ein Stachel der Wollust sein.

Noch wenig Zeiten, so bin ich los,

und liege trunken der Liebe im Schoss.

Unendliches Leben wogt mächtig in mir.

Ich schau von oben herunter nach Dir.

An jenem Hügel verlischt Dein Glanz.

Ein Schatten bringet den kühlenden Kranz.

O sauge[,] Geliebte – gewaltig mich an[,]

dass ich entschlummern und lieben kann.

Ich fühle des Todes verjüngende Flut,

zu Balsam u. Aether verwandelt mein Blut.

Ich lebe bei Tage voll Glauben u. Mut

und sterbe die Nächte in heiliger Glut.[“]

II.

[„]Wenige wissen

das Geheimnis der Liebe[,]

\!/ aber wer jemals von heißen, geliebten Lippen


Atem des Lebens sog,

Wem heilige Glut

in zitternden Wellen das Herz schmolz,

wem das Auge aufgieng,

dass es des Himmels

unergründliche Tiefe mass[.]

. . . Nie endet das süße Mahl[,]

nie sättigt die Liebe sich;

nicht innig, nicht eigen genug

kann sie haben den Geliebten.

Von immer zarteren Lippen

verwandelt wird das Genossne

inniglicher und näher.

Heissere Wollust

durchbebt die Seele/

durstiger und hungriger

Wird das Herz:

Und so währet der Liebe Genuss

von Ewigkeit zu Ewigkeit[“]

Was sagst du dazu? —

Ich finde einen solchen Zauber darin! Es lockt mich so. Überhaupt der ganze ! – Lese ihn. Und schreibe mir darüber.


Das ist sicher etwas für Dich. Mein Schatz – mein Funkelnder! Liebst Du mich? Und warum? –

Du weißt doch kaum etwas von mir? –

Du kennst mich doch mehr ahnungsvoll als durch Erfahrung! Warum erwählst Du gerade mich? –

Das ist alles sehr merkwürdig. Ich weiß – wir sind für einander da[.] –

Wir sehen uns ähnlich[.] –

Unsere Körper sind ähnlich geartet, unsere Seelen schwan[ken] rücken[,] greifen ineinander – unser[e] Gemütsschwankungen – wellen sich gleichgeartet. Warum dürfen wir nicht gleich zu einander –

unsere Jugend zu leben? Ich glaube in meinen Augen kann nur mehr Sehnsucht stehen!!! – —

Meine unstillbare Sehnsucht nach Dir!!! – —

Wie erscheine ich Dir heute? So recht verliebt u. jung. u. dumm und fühle mich doch im Moment so gescheit wie nie zuvor im Leben!! —

Mein – ich werde Dir von München aus – kaum oder wenig schreiben können – ich werde immer umringt sein – ich werd Dir Nachrichten zukommen lassen, wie ich kann. —

Ich liebe dich[.] —

Ich liebe dich[.] —


Apparat

Überlieferung

, , , , , , , .

Quellenbeschreibung

4 Bl. (8 b. S.) – Briefpapier, Blattzählung AMs (Editionsrichtlinien) (, , ).

Beilagen

Umschlag, , Neubabelsberg bei Berlin | Stahnsdorferstraße 83 | Herrn Walter Gropius; PSt. (lt. , S. 531, Nr. 112): TOBLACH 2 | 6 | 9 | 5 A | 10 | c; von WG mit einer 18. versehen (Zur Nummerierung von Alma Mahlers Briefumschlägen); fremdschr. Datierungsversuch nach Übergabe an : „[5/6.9.1910 Toblach]; rückseitig: fremdschriftlicher Zusatz nach Übergabe an : „38“.

Druck

, S. 103, bei Anm. 127 (Auszug), S. 104f., bei Anm. 132 (Auszug, irrtümlicher Verbund mit Zitat aus AM46), , S. 438, bei Anm. 47 und in Anm. 48 (Auszüge), , S. 932, bei Anm. 504 (partielle Inhaltsangabe), , S. 32, bei Anm. 73 (Auszug) und , S. 32, bei Anm. 73 (Auszug in engl. Übersetzung).

Korrespondenzstellen

Beantwortet durch WG67 vom 8. September 1910 (sage mir, ob Du der Idee zulebst die meine zu werden): Ich weiß, dass ich nur der Idee zulebe, die Deine zu werden!, WG68 vom 8. September 1910 (Schwebe ich auch so vor Dir, daß ich Deine Handlungen bestimme[.] Der Idee zuleben, die Meine zu werden. […] Bin ich noch Dein Jüngling […]?): Du schwebst gleich einer Lichtgestalt vor mir – schönster Jüngling[,] und bestimmst meine Handlungen. […] Ich weiß, dass ich nur der Idee zulebe, die Deine zu werden!, WG69 vom 8. September 1910 (Deine Zweifel müßten mich kränken, wenn sie nicht ein so himmlischer Beweis Deiner Liebe wären): Liebst Du mich? […] Du weißt doch kaum etwas von mir? […] Warum erwählst Du gerade mich? und WG70 vom 8. September 1910 (Deine süße Musterschrift): bis wir Eins sind[.] EiNS[,] Walter.

Datierung

Schreib- und Absendedatum: „vermutlich Anfang Sept.“ (, S. 448, Anm. 127), „6 Sept.“ (, S. 448, Anm. 132), „[5.9.1910], „abgeschickt am 6.9.1910“ (, S. 116, Anm. 118), Übernahme dieser Datierung bei , S. 932, Anm. 504, „‚Montag‘, [5. September 1910]“ (, S. 438, Anm. 47), „‚Montag‘, dem 5.9.[1910]“ (, S. 51, Anm. 163 und S. 310), „‚Montag‘, 5. September [1910]” (, S. 32, Anm. 73), „‚Montag‘, 5 September [1910]” (, S. 32, Anm. 73).

Datiert durch AM und Poststempel: Montag vor dem 6. September 1910.

Übertragung/Mitarbeit


(Mirka Tiede)
(Bettina Schuster)


A

Postskriptum in Bleistift.

B

Morgen Mittag reise ich ab. – nach München, Uraufführung der von am 12. September 1910

C

EiNS – kalligrafiert.

D

Ursprünglich: ertrage.

E

A. M. 50 – Chiffre, postlagernd, s. AM28 vom 3. September 1910.

F

was wird uns Wien bringen! – s. Pläne in AM28 vom 3. September 1910.

G

die Kart[ause] v.[on] Parma – s. AM27 vom 3. September 1910.

H

2 meiner Lieblingsgedichte – AM zitierte Ausschnitte aus der des Gedichtzyklus (, S. 192–195) und aus „“ der Gedichtsammlung (, S. 202–204). 1924 veröffentlichte im Verlag Vertonungen dieser zwei Gedichte in .

I

O sauge[,] Geliebte – bei : „O! sauge, Geliebter“ (, S. 194).

J

\!/ – Auslassung von fünf Versen (vgl. , S. 202).

K

. . . – Auslassung von 15 Versen (vgl. , S. 203).

L

Ewigkeit[“] – Auslassung der letzten zehn Verse (vgl. , S. 204).